Islam Cemalettin Karataş
Besonders wichtig für uns Aleviten ist: Alles vom Menschen her zu denken.
Mein Vater kam als Gastarbeiter in den 70ern nach Salzgitter. Ich bin 1980 in Diyarbakir geboren, in der Ost-Türkei. Das ist Kurdengebiet, wir waren als alevitische Türken dort eine Minderheit in der Minderheit. 1990 mit zehn Jahren bin ich nach Deutschland gekommen. Ich lebe sehr gern hier.
Ich bin aufgewachsen in einem rein alevitischen anatolischen Dorf. Dort hatten wir ein alevitisches Versammlungshaus, ein cem-evi. Jeden Donnerstagabend durfte ich mit meiner Mutter hingehen. Das sind Bilder, die mich geprägt haben, zum Beispiel die Kerze, die zum Licht erweckt wird mit den Worten: Allah, Mohammed, Ali.
Besonders gut gefällt mir folgendes Wort: Ich bin ein Instrument, durch das Gottes Liebe ertönt. Das ist ein altes Wort eines alevitischen Dichters. Es gefällt mir auch deshalb so gut, weil die Baglama, die anatolische Langhalslaute, in unserer religiösen Zeremonie eine so wichtige Rolle spielt.
Wie ich zum Glauben gekommen bin? Zunächst durch meine Mutter. Sie war sehr alevitisch religiös. Später in Salzgitter kam ich in einen rein christlichsunnitischen Kontext. Meine sunnitischen Freunde fragten mich: Warum kommst du nicht mit in die Moschee? Da musste ich mich mit der Frage auseinandersetzen, was mich eigentlich von ihnen unterscheidet, als Alevit. Nun kann ich sagen, dass genau diese Frage nach dem ›Wer bist Du?‹ höchst alevitisch und der erste Schritt auf dem alevitischen Weg ist.
Ich kam in den 90ern nach Deutschland, da gab es schon türkische Mitschüler, das machte es etwas leichter. Trotzdem war es eine ganz schlimme Zeit. Ich war in der Türkei ein Fünftklässler und ein guter Schüler dazu. Und jetzt musste ich zurück in die dritte! Das war furchtbar. Einmal bin ich vor lauter Kummer weggelaufen.
Besonders wichtig für uns Aleviten ist: Alles vom Menschen her zu denken. Nicht von Gott auszugehen. Es ist fast schon Gotteslästerung, wenn ich meine, Gott begreifen zu können. Wir müssen von seinem Ebenbild ausgehen, vom Menschen. Der alevitische Gelehrte Hünkar Bektas¸ Veli sagt: Das wichtigste Buch ist der Mensch. Gott nennen wir meist ›hak‹. Das kann auch heißen: die Wahrheit.
In Niedersachsen leben heißt für mich: zuhause sein, eine weltoffene Gesellschaft, gelebte Willkommenskultur. Mit Diskriminierung bin ich fast gar nicht konfrontiert worden. Ich fühle mich hier zuhause.
Ich bin in der Türkei ohne Vater groß geworden. Wir nannten ihn ›Onkel‹, nicht ›Vater‹, wenn er alle ein bis zwei Jahre einmal kam. Irgendwann lernten wir dann,dass er gar kein Onkel ist, sondern der Vater. Ich erinnere mich noch: er roch immer nach Kaffee und auch nach Schokolade, wenn er kam.
Woran man erkennt, dass ich Alevit bin? Ich bin regelmäßig im cem-evi. Und ich versuche, die Fastenzeit einzuhalten. Dann rasiere ich mich nicht, das sehen die Kollegen natürlich und sprechen mich darauf an. Aber sonst, im Alltag, nimmt man uns kaum wahr. Und das ist auch gut so.
Im religiösen Ritual, dem cem, sitzen Mann und Frau im Kreis mit den religiösen Wegweisern. Wir befinden uns mit ihnen auf einer Ebene. Das begeistert mich immer wieder am Alevitentum: ich versuche nicht, allgemeingültige Antworten auf religiöse Fragen zu finden. Ich befinde mich in einem Lernprozess.